Trauer ist ein gutes Beispiel dafür, wie schwierig es manchmal sein kann, ganz „normale“ menschliche Reaktionen von psychischen Störungen zu unterscheiden. Niemand wird ernsthaft bezweifeln, dass Trauer eine ganz natürliche Reaktion zum Beispiel auf den Verlust eines nahestehenden Menschen ist. Es wird von der Umgebung des Betroffenen geradezu erwartet, dass der Betreffende gedrückter Stimmung ist, sich zurückzieht, kaum lacht oder sogar häufig weint.

Doch wo liegen die Grenzen dieses „normalen“ Verhaltens? Ist es noch normale Trauer, wenn der Betroffene nicht in der Lage ist, zu arbeiten? Und wie lang darf eine solche Trauer andauern? Sind 4 Wochen angemessen, oder eher 4 Monate? Was ist, wenn jemand auch nach einem Jahr nicht in der Lage ist, seine Trauer zu kontrollieren und wieder ein normales Leben zu führen?

Ärzte und Wissenschaftler entwickeln für solche Fälle Richtlinien, anhand derer sich Ärzte und Therapeuten orientieren können. Mithilfe der Richtlinien lässt sich so zum Beispiel erkennen, ob man es mit einer psychischen Störung zu tun hat, oder nicht. Eine solche Anleitung wird regelmäßig von der American Psychiatric Association (Apa) herausgegeben. Das DSM („Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“) ist ein Standardwerk, an dem sich Wissenschaftler, Psychiater und Psychologen weltweit orientieren. Die Herausgeber legen damit sozusagen fest, was (noch) normal ist und was nicht.

In der kürzlich (2013) herausgegebenen neuesten Auflage, DSM-5, ist zum Beispiel nachzulesen, dass bei jemandem, der länger als zwei Wochen um den Tod eines geliebten Menschen trauert, bereits eine Depression diagnostiziert werden könnte. Wohlgemerkt „könnte“. Das bedeutet nicht, dass jeder, der länger trauert, krank ist, zeigt aber wie schwierig es sein kann, das eine vom anderen zu unterscheiden. Natürlich bleiben solche Festlegungen nicht ohne Widerspruch. Und gerade beim Beispiel der Trauer sind viele Fachleute der Ansicht, dass auch eine intensive Trauerphase von mehr als einem Jahr noch kein Zeichen einer behandlungsbedürftigen Depression ist. Den Herausgebern des DSM-5 wird deshalb auch vorgeworfen, dass sie völlig gesunde Menschen quasi per Definition zu psychisch Kranken machen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass einige der Herausgeber Verbindungen zur Pharmaindustrie haben, die natürlich davon profitiert, wenn mehr psychische Erkrankungen diagnostiziert werden.

Hören Sie auch auf IhrGefühl
Um zu entscheiden, ob Sie oder ein Angehöriger in der Gefahr sind, aus einer normalen Trauer in eine Depression abzurutschen, sollten Sie auch auf Ihr Gefühl hören. Wenn Sie das Gefühl haben, die Trauer nicht in den Griff zu bekommen oder wenn Ihre Lebensqualität für mehr als einige Wochen erheblich leidet, ist es sinnvoll, Hilfe zu suchen. Man spricht dabei auch vom sogenannten „Krankheitswert“, also dem Grad, in dem jemand subjektiv leidet oder in seinem normalen Leben eingeschränkt oder behindert ist. Spätestens, wenn Gedanken an Suizid auftauchen oder wenn man auch nach Wochen nicht in der Lage ist, seinen Alltag wieder allein zu bewältigen, muss ärztliche Hilfe in Anspruch genommen werden.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus unserem Buch Depressionen - erkennen - verstehen - überwinden von Alexander Stern.
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