Antidepressiva gehören zu den Medikamenten, die ihre Wirkung leider nicht sofort oder schon kurz nach der Einnahme entfalten. Die Gründe dafür sind vielfältig und in ihrer biochemischen Grundlage auch noch nicht abschließend erforscht. Selbst moderne Antidepressiva wirken in der Regel nicht sofort, sondern meist erst nach zwei bis vier Wochen.

Noch länger kann es dauern, bis der Patient selbst eine spürbare Besserung fühlt. In einer Studie der Universität Michigan fanden Forscher heraus, dass bei etwa 68 % der beobachteten Patienten die Wirkung innerhalb der ersten 4 Wochen eintrat. Das Problem: Die betroffenen Patienten hatten oft erst viel später den subjektiven Eindruck, dass es ihnen besser geht. Manchmal dauerte es Monate, bis die Betroffenen selbst wieder Hoffnung verspürten.

Das ist besonders deshalb problematisch, weil nicht wenige Patienten während der langen Wartezeit, in der anscheinend nichts passiert, den Mut und auch das Vertrauen in das Medikament (und manchmal auch in den behandelnden Arzt) verlieren. Ein weiteres Problem ist die Tatsache, dass die antriebssteigernde Wirkung einiger Medikamente bereits eintritt, während der sich der Patient noch in der Phase der Hoffnungslosigkeit befindet. In solchen Situationen kann es vorkommen, dass ein Patient tatsächlich erst durch das Medikament den Antrieb findet, einen geplanten Suizid auch auszuführen.

Das bedeutet aber nicht, dass Antidepressiva grundsätzlich abzulehnen wären. Tatsächlich werden durch die Einnahme von Antidepressiva viel mehr Suizide verhindert als möglicherweise ausgelöst.
Das zeigen auch Zahlen aus den USA und den Niederlanden. Dort wurden nach einer öffentlichen Debatte über Suizide von Jugendlichen nach Einnahme bestimmter Antidepressiva im Jahr 2003 diese Medikamente deutlich seltener verschrieben. Die Folge war ein Anstieg der Suizidzahlen unter Jugendlichen in den USA um fast 50 Prozent.

Grundsätzlich ist es aber immer wichtig, depressive Patienten insbesondere in den ersten Wochen und Monaten nach der Einnahme eines neuen Antidepressivums zu beobachten und eventuelle Warnsignale zu beachten.

 

Addendum:

Aufgrund der Nachfrage eines Besuchers (BJ) möchte ich noch einige Informationen zu diesem Beitrag hinzufügen.

Tatsächlich ist die exakte Wirkungsweise verschiedener Antidepressiva im Gehirn noch nicht vollständig geklärt. Man ging bisher davon aus, dass eine Depression unter anderem durch den Mangel an bestimmten Neurotransmittern im Gehirn ausgelöst oder aufrecht erhalten wird. Neurotransmitter sind Botenstoffe, die Erregungssignale an den Synapsen von Nervenzellen von einer Zelle zur anderen weiterleiten. Der Vorgang ist sehr komplex. Man kann ihn sich aber so vorstellen, dass eine Übertragung eines Signals dann erfolgt, wenn ein bestimmtes Erregungsniveau in der Zelle überschritten wird. In diesem Moment „funkt“ die Zelle mithilfe der Neurotransmitter ihr Signal zur Nachbarzelle. Diese Übertragungen erfolgen in der Regel in Form unterschiedlicher Mengen (Quanten) von Neurotransmittern.

Man war lange Zeit davon überzeugt, dass vor allem der Mangel an Überträgerstoffen (Neurotransmittern) für die Erkrankung an einer Depression verantwortlich sei. Aus diesem Grund setzen viele Antidepressiva an diesem Punkt an, indem sie versuchen, die verfügbare Menge an Neurotransmittern hoch zu halten. Das ist zum Beispiel bei den Medikamenten aus der Gruppe der Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) der Fall, die häufig bei Depressionen verschrieben werden.

 Bisher war man davon ausgegangen, dass diese Medikamente einfach über längere Zeit „angeflutet“, das heißt ihr Wirkungspotenzial über länger Zeit aufgebaut werden müsse, um einen für den Patienten spürbaren Effekt zu erzielen. Auf diesem Wissensstand sind auch heute noch die allermeisten Allgemeinmediziner, also zum Beispiel Hausärzte.

Aktuelle Forschungen zeigen aber, dass der Wirkungsverlauf wahrscheinlich doch etwas anders stattfindet. In verschiedenen Studien und Metastudien in den letzten Jahren konnte gezeigt werden, dass eine Wirkung tatsächlich oft schon innerhalb der ersten bzw. innerhalb der ersten zwei Wochen nach Einnahme eintritt. Im Hirnscan zeigten sich erste Wirkungen sogar schon innerhalb weniger Stunden nach Einnahme, wie Forscher vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig herausfanden.

Die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz konnte in einer Studie ebenfalls zeigen, dass sich die Wirksamkeit eines Antidepressivums bei einem bestimmten Patienten zuverlässig bereits innerhalb der ersten zwei Wochen zeigt. Man könne also bereits sehr früh erkennen, ob ein bestimmtes Medikament für einen Patienten wirkt oder nicht.
Dadurch bedingt würde ein früherer Wechsel des Medikaments (Early Medication Change) möglich und sinnvoll, wenn die erwünschte Wirkung nicht eintritt. Dies wäre für die Patienten eine deutliche Verbesserung, da die bisher in den ärztlichen Leitlinien vorgegebenen langen Wartezeiten bis zum Austausch eines für den Patienten unwirksamen Medikaments deutlich verkürzt würden.

Es sieht also tatsächlich so aus, dass die Wirkung zumindest einer großen Gruppe von Antidepressiva, nämlich der SSRI, messbar bereits viel früher im Gehirn wirkt, als das vom Patienten selbst wahrgenommen wird. Warum das so ist, ist nach wie vor nicht wirklich geklärt. Möglicherweise braucht das Gehirn einfach einige Zeit, um wieder „störungsfrei“ arbeiten zu können, nachdem die chemischen Grundlagen im Gehirn wieder normalisiert wurden.

Erfahrungsgemäß dauert es bis einem vom Patienten bewusst wahrgenommenen Wirkungseintritt umso länger, je länger die Depression schon bestand und je schwerer sie ausgeprägt war.
Ein weiterer wichtiger Grund, warum Betroffene schon beim ersten Anzeichen einer beginnenden Depression schnell Hilfe suchen sollten.

Ich werde Sie an dieser Stelle zukünftig darauf hinweisen, wenn es Neuigkeiten zu diesem Thema gibt. 

Ihr Alexander Stern

 

 

 

 

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus unserem Buch Depressionen - erkennen - verstehen - überwinden von Alexander Stern.
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